Umstellung vom TN- zum TT-System
In Thüringen werden durch den Netzbetreiber TEAG und zahlreiche Stadtwerke flächendeckend die Verteilungsnetze vom TN-System auf das TT-System umgestellt. Bei der Rekonstruktion von Straßen werden häufig die vorhandenen Freileitungen, die bisher als TN-System betrieben wurden, durch Erdkabel ersetzt. Der Verteilungsnetzbetreiber setzt im Keller einen neuen Hausanschlusskasten und bittet den Hauseigentümer, von dort aus eine neue Hauptleitung zum Zählerschrank verlegen zu lassen, weil nach einigen Wochen der Freileitungs-Hausanschluss außer Betrieb genommen und demontiert wird. Er kündigt ferner die Umstellung auf das TT-System an.
Die vorhandene Hausinstallation ist üblicherweise als TN-C- oder TN-C-S-System ausgeführt. Bei älteren Gebäuden sind weder der Hauptpotentialausgleich noch ein Erder vorhanden. Auch sonst fehlen viele Voraussetzungen zur Umstellung auf das TT-System. Sicherlich muss dafür ein großer Teil der Installationsanlage erneuert werden.
Welche Maßnahmen sind für die Umstellung erforderlich?
Darf der Verteilungsnetzbetreiber an einem Tag X das gesamte Netz umstellen?
Wer ist verantwortlich, wenn durch die Umstellung ein Unfall geschieht?
Wie wird die Umstellung beurteilt?
Der Kabel-Hausanschluss ist besser als der bisherige Freileitungs-Hausanschluss, nicht zuletzt im Hinblick auf den Überspannungsschutz, der wegen der starken Verbreitung empfindlicher elektronischer Geräte zunehmend an Bedeutung gewinnt ([1], Abschn. 7.4). Wenn gar das ganze Verteilungsnetz von Freileitung auf Kabel geändert wird, ergeben sich diesbezüglich weitere Vorteile. Außerdem wird die Elektrosicherheit erhöht.
Was aber die Umstellung vom TN- auf das TT-System anbelangt, so ist Ihre Sorge leider allzu berechtigt. Sie ist sehr aufwändig und problematisch. Die Schutzmaßnahme TT-System muss nach Abschn. 413.1.4 von VDE 0100 Teil 410 [2] ausgeführt werden. Aber auch nach anderen Normen, z. B. VDE 0100 Teil 537 [3], bringt sie einen stark erhöhten Aufwand mit sich.
Folgende Maßnahmen sind erforderlich:
a) Die Leitungen mit PEN-Leiter müssen durch neue mit einer zusätzlichen Ader ersetzt werden. Im TN-C-System betrifft das fast alle Leitungen, denn ausgenommen sind nur
Schalterleitungen,
Zuleitungen von Drehstrommotoren,
Zuleitungen ortsfester Verbraucher der Schutzklasse II und
Leitungen mit einer Reserveader.
Bei Aluminiumleitern kann es ratsam sein, auch diesen kleinen Rest mit auszuwechseln.
b) An allen Trennstellen (z. B. Stromkreise in den Verteilern) wird eine zusätzliche Trenneinrichtung oder eine solche mit zusätzlichem Pol für den Neutralleiter benötigt ([4], Abschn. 3; [5]).
c) Umschalter für Notstromaggregate müssen einen vierten Pol für den Neutralleiter haben ([6], Zu 1.).
d) Als Abschalteinrichtungen für die Schutzmaßnahme TT-System werden FI-Schutzschalter benötigt.
In bestimmten Anlagenteilen, wo FI-Schutzschalter nicht eingesetzt werden dürfen (z. B. Sicherheitsstromversorgung in Bauten mit Menschenansammlungen, Sprinkleranlagen), müssen erheblich aufwendigere Maßnahmen und Mittel für den Elektroschutz wie
Schutztrennung mit Trenntransformator oder
IT-System mit Transformator und Isolations-Überwachungseinrichtung
angewendet werden ([7], Punkte b) und c)).
e) Die Verteiler müssen schutzisoliert sein.
f) Für die Schutzmaßnahme TT-System wird ein Schutzerder benötigt ([8], Abschn. 1).
g) In die Verbindungen zu den Erdern anderer Häuser müssen Trennfunkenstrecken eingefügt werden ([9], Abschn. 4.4; [10], Abschn. 1). Würden die Erder zahlreicher Häuser direkt miteinander verbunden, so entstünde etwas, was dem TN-System ähnlich, jedoch schlechter wäre. Ein Fehler in einem der Häuser (z. B. Installationsfehler, Versagen eines FI-Schutzschalters) würde sich auf die Anlagen der anderen Häuser übertragen.
h) Wenn so tiefgreifende Änderungen der Installationsanlagen erfolgen, wie sie hier erörtert werden, ergibt sich die Verpflichtung, auch den Hauptpotentialausgleich herzustellen, sofern er noch fehlt,
ferner den zusätzlichen Potentialausgleich, z. B. in den Badezimmern.
i) Für den Überspannungs-Grobschutz wird ein N-PE-Ableiter als vierter Blitzstromableiter benötigt ([1], Abschn. 7.3.3, [11]).
Den Tag „X“ kann es nicht geben. Der Hauptschutzleiter darf erst dann vom vierten Leiter der Hausanschlussleitung getrennt werden, wenn sämtliche Anlagenteile im Haus umgestellt sind [12]. Die Anlagenplaner und -errichter benötigen Aufträge für ihre Leistungen. Die Planung, die Materialbeschaffung und die Ausführung brauchen ihre Zeit; und gut Ding will Weile haben. Zudem müssen auch alle Bewohner „mitspielen“.
Das gesamte Netz kann erst dann als umgestellt gelten, wenn die Umstellung in allen angeschlossenen Häusern vollendet ist. Bis dahin können viele Jahre vergehen. Niemand kann die Anlagen in allen Häusern kontrollieren und übersehen.
Verantwortung für Unfälle infolge der Umstellung. Durch die Umstellung können Gefahren auftreten, u. a. dadurch, dass in den bereits umgestellten Häusern das TT-System ohne FI-Schutzschalter, also mit Abschaltung durch Überstrom-Schutzeinrichtungen, angewendet wird. Der Verteilungsnetzbetreiber muss bekannt geben, dass diese Version der Schutzmaßnahme TT-System nicht angewendet werden darf.
Für Unfälle, die durch die Umstellung entstehen, können die Haus- und Wohnungseigentümer sowie die Bewohner nicht verantwortlich gemacht werden, vor allem dann, wenn sie Laien sind. Die Anlagenplaner und -errichter können wohl nur verantwortlich sein, wenn sie die Ausführung ihres Auftrags schuldhaft verzögert oder fehlerhaft gearbeitet haben. In erster Linie ist der Verteilungsnetzbetreiber verantwortlich, weil er die bisher bestehende Voraussetzung für die Schutzmaßnahme TN-System beseitigt.
Beurteilung der Umstellung. In Österreich wurde gesetzlich vorgeschrieben, seit dem 01.01.1999 alle neuen öffentlichen Verteilungsnetze für die Anwendung des TN-Systems auszuführen und bis zum 31.12.2008 alle bestehenden entsprechend zu ändern. Mit dieser Feststellung soll keineswegs für eine Nachahmung geworben werden. Es soll aber auf eine Tendenz hingewiesen werden, die vielleicht auch in Deutschland um sich greifen kann.
Dem TT-System können gewisse Vorteile hinsichtlich der Sicherheit nicht abgesprochen werden. So wird bei ihm die Einschleppung einer Fehlerspannung über den vierten Leiter der Hausanschlussleitung vom Versorgungsnetz in die Anlage des Hauses vermieden. Das hat besonders in Freileitungsnetzen Bedeutung, und zwar im Hinblick auf die Gefahr von Seilrissen. Andererseits kann das TT-System Schwierigkeiten bereiten, wenn die Häuser kleine Abstände voneinander haben oder gar in Blöcken aneinander gebaut sind, weil sich dann die Erder nicht trennen lassen.
Die Umstellung auf das TT-System wird durch dessen Vorteile nicht gerechtfertigt. Geradezu paradox ist sie, wenn sie mit der Änderung des Versorgungsnetzes von Freileitung auf Kabel einhergeht. In Bayern, wo die thüringer Verteilungsnetzbetreiber vermutlich ihre Inspiration für die Umstellung empfangen haben, sind Verteilungsnetze mit TN-System in Betrieb.
Die Umstellung ist eine Arbeitsbeschaffungs- und Marktbelebungsmaßnahme. Insofern kann sie für die Auftragnehmer von Vorteil sein. Andererseits kann sie viele Schwierigkeiten mit sich bringen. Den Bewohnern der betroffenen Häuser kann sie große Strapazen bereiten. Die Anlagenplaner und -errichter können zwischen die Fronten geraten. Die Haus- und Wohnungseigentümer werden als Laien nicht begreifen, mit welch großem Aufwand die Umstellung verbunden ist. Deren Notwendigkeit werden sie bezweifeln, und zwar mit Recht. Es sollten die berufsständigen Vereinigungen der Anlagenplaner und -errichter, die Mietervereine und die Hausbesitzervereine eingeschaltet werden. Möglicherweise ist die Sache eine Angelegenheit für das Bundesverfassungsgericht.