Wie Catweazle habe auch ich mir früher die Frage gestellt ob die Auslösung des magnetischen Schnellauslösers für den Leitungsschutz notwendig ist.
Rein der Logik nach:
Weder Leitungsschutzschalter noch die Leitung "wissen", ob der über sie fließende Strom, formal ein Überlaststrom oder ein Kurzschlussstrom ist.
Wenn also der LSS bei den 96A (aus dem Ursprungs-beispiel) Überlast die Leitung schützt so ist sie genau so bei 96A Kurzschlussstrom geschützt!
Trotzdem findet man je nach Quelle/Autor konträre Ansichten.
Als Beispiel seien hier die VDE 0100-600 genannt, die nicht explizite eine Messung der Netzimpedanz fordert
und demgegenüber die DGUV Informationen 203-072, Seite 51:
Eine Messung der Netzimpedanz ist notwendig, wenn in dem Stromkreis
eine RCD verbaut ist, da diese keine Leitungsschutzeigenschaften aufweist.
Selbe Quelle, Seite 40:
In Stromkreisen mit RCD ist eine Fehlerschleifenimpedanzmessung
nicht gefordert, da der bei dieser Messung auftretende Prüfstrom zur
ungewollten Auslösung der RCD führt. Allerdings muss in solchen Stromkreisen für den Nachweis der Abschaltbedingungen der Überstromschutzorgane eine Netzimpedanzmessung nach Abschnitt 3.4.3.1.2
durchgeführt werden.
Das ist natürlich ein inhaltlich unbefriedigender Zustand.
Und macht zudem auch noch richtig Arbeit, schließlich muss dann je Stromkreis auch noch die Netzimpedanz gemessen werden.
Also noch mal Recherche... Und siehe da:
NIN-Know-how 44
[PDF] NIN-Know-how 44 - bei AER Elektro - Free Download PDF
Zwar aus der Schweiz, bezieht sich aber auf normale C-Automaten und ist physikalisch logisch.
Als Grundprinzip kann man einer Leitung bei jedem Überstrom eine zulässige Betriebszeit zuordnen (beim ABB-PDF "Betriebsgrenzkennlinie", NIN-Know-How 44 "Gefahrenkurve" etc.).
Ist die Auslösezeit des Leitungsschutzes beim jeweiligen Überstrom kleiner oder gleich, ist die Leitung geschützt.
Hatte ich auch irgendwo anders schon gelesen, finde ich aber nicht wieder.
Dafür aber das hier:
AEG Hilfsbuch für elektrische Licht- und Kraftanlagen, 1939
http://delibra.bg.polsl.pl/Content/30727/BCPS_34486_1939_AEG-Hilfsbuch-fur-el.pdf
Bei genauerer Betrachtung weisen Bild 46 auf Seite 394(PDF S.401) und der zugehörige Text die gleiche Logik aus.
Auch wenn sich das auf Schmelzsicherungen bezieht. Die Thematik also ein mehr als alter Hut.
Jetzt währe das natürlich schön wenn man eine belastbare Quelle - oder eine mathematische Funktion - für eine Betriebsgrenzkennlinie hätte.
Wenn man den Leitungsschutz etwas extravaganter Projektieren möchte, z.B. im Rahmen von Motorstartern, natürlich ausgesprochen von Interesse.
Zuerst sei gesagt: Die Grenzbelastungskennlinie bei ABB hat so ihre Schönheitsfehler.
Zum ersten die Lücke zwischen Bereich 2 und Bereich 3.:
Wenn in Bereich 3 doch keine Wärme abgeleitet wird und in Bereich 2 Wärme begrenzt abgeleitet wird -> was passiert dazwischen ???
Zum zweiten die Beschriftung der X-Achse:
Iz ist Abhängig von den Verlegebedingungen. Da es um Wärmeableitung geht ist die Beschriftung mit vielfachen von Iz für den Bereich 1 & 2 brauchbar.
Im Bereich ohne Wärmeabgabe hingegen geht es um Querschnitt (=> Masse) des Leiters.
Oder anders gesagt: In einem Fall habe ich z.B. 1,5mm² für Iz=16A, in einem anderen (durch extrem ungünstige Umstände) z.B. 25mm² für Iz=16a.
Die Kennlinie in der ersten Bereichen bleibt gleich weil der Iz gleich ist.
Im Bereich 3 & 4 ist die Zeit über k²S² unmittelbar an den Querschnitt gekoppelt. Der Querschnitt sagt aber nichts über Iz aus!
=> eine Angabe relativ zu Iz ist für die oberen Bereiche nicht möglich.
Also weiter gesucht! Und erst mal nichts leicht verdauliches Gefunden.
Und dann habe tollen Beifang gehabt, inzwischen einer, wenn nicht mein bester Artikel zum Thema:
Rudolf Bächtold - Leitungsschutz gestern - heute - morgen
in Bulletin des Schweizerischen Elektrotechnischen Vereins, Band 65, Heft 18, S.1362ff
Leitungsschutz gestern - heute - morgen
In Simaris Curves war mir vor diesem Artikel bei Motorstartern schon aufgefallen, dass wenn man reine Überlastrelais benutzt, diese ab einem gewissen Überstrom zerstört werden. Um dies zu verhindern kann man z.B. Leistungsschalter nur mit magnetischer Schnellauslösung verwenden.
Meine Vermutung war, dass der magnetische Auslöser in LSS ebenso weniger für die Leitung als viel mehr für den Überstromauslöser gedacht ist.
R.Bächtold bestätigt dies, was mich sehr gefreut hat.
Die Schnellauslösung hatte also noch nie etwas mit dem Kurzschlussschutz zu tun, vielmehr konnte man Sie praktischer weise für den Personenschutz mitbenutzen!
Bleibt trotzdem die Geschichte mit der Betriebsgrenzkennlinie. Irgendwann dämmerte es mir:
Was bedeutet die eigentlich ?
Egal ob der Überlast oder der Schnellauslöser kommt: Wir wechseln doch die Leitung nicht jedes mal. Auch messen wir die Leitung nicht jedes mal durch.
Hebel rauf, fertig!
Wie viel Reserve ist enthalten? Also Arrhenius-Gleichung
Beschleunigte Alterung – Wikipedia
mit den Daten vom ABB-PDF und Excel kombiniert. Gibt interessante Ergebnisse.
Ein erstes Ergebniss:
Bei Überlastung, wie allgemein erwartet, sinkt die Lebensdauer drastisch. Das ist aber kein wesentliches Problem.
Bei 160°C haben wir immer eine Lebensdauer von knapp 250000s oder 50000 Kurzschlüsse zu 5s bevor die Leitung verschlissen ist.
Intensive Nutzung verkürzt selbstverständlich wie bei jedem Material die Lebensdauer.
Auf der anderen Seite steht der Betrieb mit weniger als Nennlast. Rechnerische Lebensdauer steigt dramatisch.
Wie will man das eigentlich bewerten? 2* Überlast mit 96°C = 1 * Überlast mit 105°C? Dann müsste man ja wissen wie die Verteilung, Häufigkeit in der konkreten Anwendung sind.
Selbst wenn eine Leitung also den einen oder anderen langsam abgeschalteten Kurzschluss erdulden muss ist das kein Beinbruch.
Darf halt kein Dauerzustand sein.
Im Endeffekt können wir über die Absicherung vielleicht die Abnutzung beim einzelnen Kurzschluss reduzieren, nicht aber die Abnutzung an sich.
Die Höhe des Überstroms haben wir ja nicht in der Hand; Nutzer können immer - und auch beliebig oft - Stromkreise Überlasten und Schlüsse können immer auch widerstandsbehaftet sein.
Ich persönlich suche auch nicht mehr nach einer Betriebsgrenzkennlinie. Sie ist eben keine "Zerstörungskennlinie", wie sich beim Blick auf die rechnerischen Reserven zeigt.
Verwendet man Leitungsschutzschalter mit einer auf den Leitungsschutz abgestimmten Kennlinie so ist für mich die Netzimpedanz und die Abschaltzeit egal.
Von allerhöchster Wichtigkeit hingegen ist die korrekte Zuordnung zum Iz der Leitung, und zwar mit allen Parametern (Häufung, Temperatur, Verlegeart...)!
Als ob ich noch nicht genug geschrieben hätte:
Ausgeklammert war bisher I²t.
Dachte ja ich hätte diesen Bereich verstanden aber inzwischen komme ich da ins Grübeln.
Bleiben wir noch mal einen Moment bei der Notwendigkeit zur Abschaltung beim Kurzschluss.
Stellen wir uns eine Spannungsquelle vor die wir mit einem Draht kurz schließen, z.B. U=230V, A=1,5mm² Kupfer,l = 1m,PVC
Damit lässt sich die Leistung errechnen:
P=U²/R
Sagen wir weiter, dass nach einer bestimmten Zeit t die für die Isolation höchste vertretbare Temperatur (z.B. 160°C) erreicht wird:
W=U²*t/R
Wenn wir jetzt statt einem einfachen Draht einen doppelt so langen Draht nehmen verdoppelt sich der Widerstand und die Masse.
Um den Draht auf die gleiche Temperatur zu bringen müssen wir doppelt so viel Arbeit leisten mit halber Leistung, ergo wir brauchen die vierfache Zeit.
Allgemeiner:
Für einen Draht n-facher Länge auf die gleiche Temperatur zu erwärmen brauchen wir n² mal die Zeit des einfachen Drahts.
Schlussfolgerung ist, dass Kurzschlüsse um so langsamer abgeschaltet werden können, je weiter sie von der Spannungsquelle weg sind.
Dabei habe ich natürlich Dinge wie die Änderung des Widerstands durch Erwärmung unterschlagen.
Auch das 160°C für einen kurzen Zeitraum akzeptabel ist, ist bekannt.
Bei der Durchlassenergie steh ich jetzt auf dem Schlauch.
Warum man Grundsätzlich davon Abstand nimmt die Zeit zu betrachten verstehe ich.
Schöne Lektüre:
Siemens Sentron Sicherungssysteme - Technikfibel
https://support.industry.siemens.co...Fibel_DE_201601250853045758.pdf?download=true
S.53ff
Das I²t keine Energie oder Arbeit im eigentlichen Sinne darstellt ist auch klar.
Probleme bereitet mir jetzt der Vergleich
I²t <= k²S²
in k²S² geht eine Fläche ein, nicht jedoch eine Länge.
Ergo haben wir auch kein Volumen und somit keine Masse sowie Wärmekapazität.
Anders ausgedrückt:
Die Überstromschutzeinrichtung limitiert auf einen bestimmten Wert der Durchlass"energie" (Sollte wohl Arbeit sein?, ich vermische hier mal fleißig... ).
Diese Energie zeigt sich in der Erwärmung der folgenden Leitung.
Warum ist es jetzt egal wie lang die Leitung ist? Eine kürzere Leitung hat ja nun eine geringere Masse womit doch auch eine größere Erwärmung
bei gleicher Energie auftreten müsste?
Das war's, bin fertig.
Selbst wenn es keiner liest, hoffe die Links bringen den einen oder anderen weiter.
@Drehfeld
Habe Interesse an deinen Rechnungen insbesondere zu #41 und #49, oder habe ich Tomaten auf den Augen
?